Selbstfürsorge ist mehr als ein Schaumbad

 

Die Rolle von Selbstfürsorge bei chronischen Erkrankungen

Die Sonne ist schon längst vor meinem Fenster untergegangen. Irgendwann klappe ich meinen Laptop zu. Feierabend. Ich schaue auf die Uhr: 21.47 Uhr. Naja, so ist das wohl manchmal, denke ich. Ich arbeite ja auch schließlich im Homeoffice. Aber jetzt schnell ins Bett. Auf dem Weg dorthin führe ich meine Gedanken weiter: Aber ich habe ja auch den halben Vormittag bei meinen Ärzt*innen verbracht und danach brauchte ich ja auch noch meinen Mittagsschlaf und bin erst zum Abend wieder aufgestanden. Eigentlich habe ich ja nur wenige Stunden gearbeitet. Ich merke, wie ich anfange mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Alleine zu den Ärzt*innen hinzukommen, dann so lange dort im Wartezimmer zu sitzen und dann auch noch die ganzen Tests. Das ist dann ja auch verständlich, wenn ich danach erst einmal eine Pause benötige.

Pause. Gutes Stichwort. Ich halte inne und drücke gedanklich die Pause-Taste. Wieso fange ich an, mich zu rechtfertigen? Vielleicht, weil ich das Gefühl habe, nicht genug zu tun. Und vor wem? Vor mir selbst? Ich bemerke, wie ich mich in einem Kreislauf wiederfinde. Ein Kreislauf, von aneinander gereihten Terminen, bei denen Ärzt*innen-Termine meine freie Zeit füllen und auch die benötigten Ruhephasen terminlich eingetragen sind. Naja, so richtig nach Erholung klingt das ja nicht. Und so finde ich mich an diesem Abend dabei wieder, wie ich stundenlang durch meine Social Media Timeline scrolle, anstatt doch zu schlafen.

„Wie kann ich besser auf mich achten?“, frage ich mich und durchforste dazu das Internet. Bei dem Begriff „#Selbstfürsorge“ erscheinen 904 Tsd. Einträge auf den Sozialen Netzwerken. Weltweit unter der englischen Übersetzung zu „#Selfcare“ sind es bereits über 90 Millionen Stück. Ich sehe Beiträge von Menschen mit einer 12-Schrittigen Hautpflege-Routine oder einem 7 Punkte-Guide zur „der perfekten Selbstfürsorge“. Ich schmunzle. Sollte Selbstfürsorge nicht dazu da sein, uns zu entschleunigen, anstatt unter Druck zu setzen? Gibt es in unserer Gesellschaft, in der es so häufig um Leistung geht, auch Leistungspunkte für die perfekte Self-Care-Routine? Ich lebe mit einer chronischen multisystemischen Erkrankung und ich weiß, dass ich mein gesamtes Leben mit diesem Körper verbringen werde. Aufgrund der bestehenden Leistungsideale, die in unserer Gesellschaft vorherrschen, wird mir häufig suggeriert, dass ich nicht gut genug bin. Dass ich mehr tun müsste. Auch, wenn ich dabei immer wieder an meine Grenzen stoße.

Was bedeutet Self Care eigentlich?

Selbstfürsorge kommt von dem amerikanisch-englischen Wort „Self Care“ und hat seinen Ursprung aus den 1960ern und 1970ern, als in den USA die Bürgerrechts- und Frauenbewegung stattgefunden haben. Einen großen Teil zu Self Care haben POC – Frauen beigetragen. Es ging ursprünglich nicht um Zitronenwasser und Schaumbäder, sondern um den Wiederherstellungsprozess des eigenen Selbst um medizinisch, den eigenen Gesundheitszustand zu sichern, sodass die Frauen sich wieder gut genug gefühlt haben, weiter für Frauenrechte zu kämpfen und um sich um andere zu kümmern, zu arbeiten, andere zu umsorgen und wieder zu funktionieren. Auch die westliche Medizin hat den Anspruch, sich um den Körper oder die mentale Gesundheit einer Person zu kümmern. Häufig verfolgt die Medizin dabei den Ansatz, die Personen wieder möglichst leistungs- und funktionsfähig zu machen.

Und ich bin der modernen Medizin sehr dankbar, dass es sie gibt, weil ich nur aufgrund dieser bisher schon so lange mit meiner chronischen Erkrankung leben kann. Für mich persönlich geht es bei meiner Versorgung aber nicht darum, mich so leistungs- und funktionsfähig wie möglich zu machen. Vielmehr geht es für mich darum, mich um mich selbst zu kümmern. Um für mich, mit meinem Körper und meinen Umständen das, was ich selbst beeinflussen kann, ein Leben zu schaffen, welches sich für mich möglichst gut anfühlt. Ich habe mich nie dazu entschieden, chronisch krank zu sein. Aber wie ich mit dem lebe, was ich bekommen habe, und wie ich damit umgehe, das liegt auch in meiner Verantwortung und kann ich zum Teil beeinflussen. Ich werde im medizinischen Sinne nie „gesund“ werden. Für mich geht es viel mehr um den Begriff des Wohlbefindens.

Self Care bei chronischen Erkrankungen

Meine chronischen Erkrankung und Schwerbehinderung spüre ich an jedem Tag. Dies betrifft nicht nur das Aushalten und Managen von verschiedenen Symptomen, sondern auch die viele Aspekte meines Alltags. So bringe ich immer wieder viel Zeit und Kraft dazu auf, mich um meine Versorgungsstrukturen zu kümmern, verbringe viel Zeit in den Wartezimmern von Ärzt*innen, fülle Anträge aus, organisiere meine medizinische und pflegerische Versorgung. Zusätzlich begegne ich immer wieder strukturellen und institutionellen Barrieren und Herausforderungen, denen ich nur begegne, weil ich chronisch erkrankt und schwerbehindert bin. Und doch sind all diese organisatorischen Aspekte, so anstrengend und ermüdend sie auch sind, sobald die dort erfragten Hilfsmittel, Assistenzen und Behandlungen anerkannt werden, eine ganz schöne Entlastung. Und das ist, so widersprüchlich es zunächst klingen mag, langfristig auch Self Care.

Aber an vielen dieser Tage denke ich mir nicht am Abend: Jetzt ist der richtige Moment einen richtig langen Self Care Marathon zu starten. Manchmal möchte ich mich einfach nur Ausruhen. Ich kann und möchte nicht darauf warten, eines Tages vielleicht doch genug schaffen und leisten zu können, um dann gut genug zu sein, um dann so viel Anerkennung zu erhalten, dann würde ich ewig warten. Ich möchte meinen Wert nicht von Leistung abhängig machen. Wir dürfen uns selbst wertvoll genug sein, um die Muster, die wir kollektiv erlernt haben, auch zu hinterfragen und zu durchbrechen. Erst wenn wir erkennen, was wir wirklich brauchen, wenn wir ganz tief in uns hineinspüren und schauen, was wir denken und fühlen, erst dann können wir auch ermitteln, wie wir gut zu uns sein können. 

Wie kann ich Self Care umsetzen?

Die Einflüsse, die Stressoren, egal von außen oder von innen, haben einen Effekt auf unsere Gesundheit, auf unser psychisches Wohlbefinden und unser soziales Handeln. Wir können nicht über alles die Kontrolle haben und es liegt häufig an Ressourcen und Privilegien, ob wir in all unseren Lebensbereichen Veränderungen vornehmen können, sodass wir uns mit ihnen wohl fühlen. Aber vielleicht sind es schon ein paar wenige Aspekte, die uns zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer geben können. Selbstfürsorge kann ich verschiedenen Lebensbereichen passieren: Der Art unserer Ernährung, die Häufigkeit und Intensität von Bewegung, wie ausreichend und erholt wir schlafen. Aber auch wie achtsam wir mit uns selbst und unseren Mitmenschen umgehen. Dadurch, dass wir Grenzen setzen und diese kommunizieren. Durch Hobbies, die wir aus Freude und nicht zur Leistung machen. Mit wem und wie häufig wir unsere Zeit verbringen. Zu überlegen, welche Medien wir konsumieren, wem wir folgen und wie wir uns dabei fühlen.

Und Selbstfürsorge ist auch Unterstützungs- und Hilfsangebote zu ersuchen und anzunehmen. Bei all dem geht es darum, unserem Körper, unserem Gedanken, unserer Seele und unserer sozialen Batterie das zu zuführen, was sie benötigen und ihnen gut tut. Es geht darum, Stress zu reduzieren und so unseren Cortisolspiegel senken. Uns die Zeit zu geben, uns körperlich, seelisch und sozial zu regenerieren und das Erlebte zu verarbeiten. Es geht darum, etwas zu finden, was uns gut tut und Freude schenkt, sodass unser Körper Endorphine und Dopamin produziert – also Glückshormone. Durch das Achten auf unsere Ressourcen und Grenzen können Energie und Kapazitäten bewahren. Durch uns wohltuende Verbindungen schütten wir Oxytozin aus – ein angstlösendes und bindungsverstärkendes Hormon.

Im Einklang sein

Mit einer chronischen Erkrankung zu leben, bedeutet dass es auch immer wieder eine Herausforderung sein kann, eine Balance im Alltag zu finden, damit es mir so gut wie möglich geht. Wenn ich nicht auf die Bedürfnisse meines Körpers achte und ggf. dagegen handle, dann würde ich wahrscheinlich sehr schnell eine Verschlechterung meines Gesundheitszustandes erfahren. Meine Erkrankung ist eben immer dabei. An manchen Tagen nimmt sie so viel Raum ein, dass ich nicht viel anderes tun kann, als mich darum zu kümmern. Dann ist Self Care wahrscheinlich kein Schaumbad, sondern zu schauen, wie ich irgendwie durch diesen Tag hindurchkomme. Wie kann meine Grundversorgung und Pflege sichergestellt werden? Schaffe ich es mir heute selbstständig essen zu kochen, mich anzuziehen oder Zähne zu putzen? Und was könnte mir abgenommen werden oder im Notfall auch übersprungen werden, weil ich gerade dazu keine Kraft habe? Was unterstützt mich gerade und kann entweder meine Symptome lindern oder mir, während ich eben diese aushalte, möglichst viel Komfort bieten? 

Vielleicht gibt es Tage, an denen es Self Care genug ist, irgendwie durch den Tag hindurchzukommen. Für andere Menschen sind es vielleicht solche Tage, an denen Selbstfürsorge umso heilsamer ist. Tage, an denen die Symptome viel Kraft kosten oder die gesamte Zeit bei Terminen, beim Ausfüllen von Anträgen oder beim Zeitvertreiben in der Warteschleife der Krankenkassen, umso wichtiger ist. Dann kann das intentionale auf sich achten und gut zu sich sein, die Umarmung sein, die wir uns gerade so sehnlichst wünschen. Vielleicht ist Self Care genau das, was wir daraus machen. Nach anstrengenden Tagen und Phasen muss es nicht den Masterplan geben, sodass Self Care nur wie ein weiterer To-Do-Punkt auf einer nicht endenden Liste wirkt. Self Care sollte nicht anstrengend sein. Nichts, was wir irgendwo in ein 42-minütiges Zeitfenster in unseren Wochenkalender schreiben, nur dass wir dann am Ende ein Haken daran setzen können mit dem Gedanken: „Gut, dann haben wir das auch geschafft.“

Self Care ist vielleicht viel mehr, das in uns hineinhorchen. Die Frage: Was brauche ich gerade und was täte mir gut? Dann nehmen wir uns die Zeit, uns wieder herzustellen, uns selbst mit Liebe und Sanftheit zu begegnen, weil alles um uns herum, gerade schon schwer genug ist. Manchmal ist es das intentionale Zeitfenster zu erschaffen, weil wir es sonst selbst vergessen. Und vielleicht ist es für einige das Schaumbad und die 12- Schritte Hautpflege-Routine. Manchmal ist es, nach einer längeren und anstrengenden Phase den Wohnraum wieder aufzuräumen, die Laken neu zu beziehen und frische Luft hineinzulassen. Es ist die Atemübung. Es ist nach langer Zeit wieder in eine Sport-Routine zu finden. Oder das Essen-Bestellen mit dem Gedanken: „Ich darf meine Kräfte sparen“, anstatt zu denken: „Jetzt bin ich faul, weil ich nicht selbst koche.“ Es ist den Sonnenaufgang beobachten und dieser eine gute neue Song neulich. Es sind die großen Momente und die ganz kleinen. An manchen Tagen ist es das Liegenbleiben und an anderen das intentionale Aufstehen. Es ist das zu tun, was wir spüren, was uns gerade gut tun könnte. Und es ist schwer, mir selbst immer und ausschließlich mit Liebe zu begegnen. In einer Welt, die scheinbar nicht für mich gemacht ist, und mit einem Körper, der häufig nicht auf mich und meine Pläne zu hören mag. Nicht alles ist immer leicht oder einfach und das, was verdammt schwer und anstrengend ist, muss ich auch nicht extra romantisieren.

Aus Verbundenheit mit mir selbst

Self Care kann Teil meines Alltags werden, sodass es gar nicht alle paar Wochen oder Monate das bedienen des Notknopfes geben muss. Ich möchte lernen, meine Bedürfnisse klarer zu spüren, zu identifizieren und nach ihnen zu handeln. Und ich weiß, dass es nicht immer möglich ist, das dann auch direkt umzusetzen. Aber dann überlege ich, wann und wie das möglichst bald möglich ist. Ich trage für mich selbst Verantwortung. Und ich darf mir selbst die Fürsorge entgegenbringen, die ich sonst für meine Liebsten empfinde. Wir müssen uns nicht für unsere Grenzen rechtfertigen. Wir dürfen für uns einstehen und laut sein. Wir verdienen es, immer wieder neu starten zu dürfen. Wir dürfen uns in uns zurückziehen. Wir dürfen nach Hilfe fragen und wir dürfen mutig sein, diese auch anzunehmen, wenn sie uns geboten wird. 

Self Care bleibt ein Balanceakt. Nicht nur, weil sich das Leben immer wieder verändert, sondern auch, weil meine chronische Erkrankung sich immer mit verändert. Ich möchte leben und weitermachen. Und ein Leben leben, welches sich für mich gut anfühlt. Selbstfürsorge wird mich nicht heilen. Das ist aber auch nicht das Ziel. Selbstfürsorge bedeutet mich, mich selbst ein bisschen zu halten. Mir die Wertschätzung entgegenzubringen, weil ich sie verdient habe und nicht erst durch das Darlegen von Leistung beweisen muss. Und es ist meine konstante Erinnerung an mich: Ich bin genug. 

Unsere Gast-Autorin

Sabrina Lorenz ist Autorin, Rednerin und Beraterin für Inklusion, Anti-Ableismus und Patient*innen-Kommunikation. Die ausgebildete Sozialarbeiterin ist selbst chronisch erkrankt und schwerbehindert und zeigt, dass Inklusion in die Mitte einer demokratischen Gesellschaft gehört. Auf ihrem Blog Fragments of Living schreibt sie zu den Themen Disability-Empowerment und Netzaktivismus und setzt Impulse für die junge Gerneration der Behindertenrechtsbewegung. 
Lorenz bringt Inklusion auf die Bühne und in die Mitte der Gesellschaft. So veranstaltet sie gemeinsam mit dem Initiator Kevin Hoffmann das größte deutschlandweite Community-Event für Menschen mit Behinderungen und / oder chronischen Erkrankungen: dem Kämpferherzen-Treffen und ist gemeinsam mit dem Para-Olympioniken Moritz Brückner in ihrem gemeinsamen Podcast “Inklusiv UNS” zu hören. 
Sabrine Lorenz wurde 2024 als Zeit Campus “30 bis 30” ausgezeichnet.

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